Entrevistas

„Wir müssen bis zum letzten Blutstropfen kämpfen“

Raphael Bahebwa spricht über den Kreislauf der Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo und dass dies ein vorsätzliches geopolitisches Projekt ist, das darauf abzielt, die Bevölkerung zu terrorisieren, sich Grund und Boden anzueignen und Mineralien zu rauben.
Raphael Bahebwa ist Aktivist und lebt in der Demokratischen Republik Kongo (DRK). Er ist Mitglied der Congolese Solidarity Campaign, die sich für Gerechtigkeit und Frieden für das kongolesische Volk einsetzt.

In diesem Gespräch mit Tanya Singh von der Progressiven Internationale erörtert Bahebwa den Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo und dass dies keine neue Krise ist, sondern ein kontinuierliches, systematisches Ausbeutungsprojekt, das in einer Geschichte wurzelt, die vom Sklavenhandel im 14. Jahrhundert bis zu den ethnischen Spaltungen der Kolonisatoren reicht. Er behauptet, dass die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft kein Versagen, sondern ein Beweis für ihre Komplizenschaft ist. Sie ermöglicht ein System, in dem ausländische Mächte und Unternehmen regionale Stellvertreter und Marionettenregierungen einsetzen, um das Land zu kontrollieren und seine Ressourcen zu plündern, sodass das kongolesische Volk im Alleingang um sein Überleben kämpfen muss.

Tanya Singh: Was sind die tiefgreifendsten und am meisten übersehenen Ebenen der Geschichte und der internationalen Beteiligung, die wir berücksichtigen müssen, um den Kreislauf von Gewalt und Widerstandskraft in der Demokratischen Republik Kongo überhaupt zu verstehen?

Raphael Bahebwa: Ich muss zunächst sagen, dass der Kongo nie wirklich Frieden gekannt hat. Dieser Konflikt hat tiefe Wurzeln und reicht bis ins 14. Jahrhundert mit der Ankunft der Sklavenhändler zurück. Die Gräueltaten begannen bereits damals und haben nie wirklich aufgehört. Es gibt eine lange Geschichte der Vergewaltigung und Ermordung unseres Volkes und der Brandschatzung unsere Dörfer. Ich komme aus Bukavu in Süd-Kivu. Ein Angriff auf einen Zentimeter des Kongo ist ein Angriff auf uns alle.

Was bedeutet das für das tägliche Leben? Ich war im Dezember 2024 in der Demokratischen Republik Kongo. Ich habe miterlebt, wie unsere Leute von der Hand in den Mund leben müssen und an Wohlstand oder Entwicklung nicht einmal denken können. Sie können nur darüber nachdenken, was sie heute essen werden und ob sie den morgigen Tag überleben werden.

Ich traf einen Kollegen, der gezwungen war, aus seinem Haus in den Bergen zu fliehen und in die Stadt zu kommen. Er sagte mir: „Raphael, du bist nicht hier geblieben, du verstehst es nicht.“ Dann erklärte er: Seine Frau und seine Töchter wurden vergewaltigt und seine Ernte wurde von Rebellen gestohlen. Er sah keine andere Wahl, als seine Heimat zu verlassen. Seine Geschichte ist kein Einzelfall.

Das Leben in Kivu ist heute von Angst geprägt. Es wird unerbittlich vergewaltigt, gefoltert und unberechenbar Gewalt angetan. Wir können nicht vorhersagen, was der Tag bringen wird. Der wahre Sinn des Lebens wurde uns entrissen. Das ist die übersehene Realität.

Um das zu verstehen, müssen wir auf die Geschichte zurückblicken.

Vor der Berliner Konferenz gehörten der Kongo, Burundi und Ruanda zusammen. Die Kolonisatoren kamen her und erzählten einer Gruppe, dass sie den anderen überlegen seien, und säten damit einen tödlichen Samen ethnischer Spaltung, den wir noch heute ernten. Der aktuelle Krieg wird von jenen vorangetrieben, denen diese Ideologie der Überlegenheit beigebracht wurde und die nun als Vollstrecker eines neuen Kolonialsystems dienen – ausländische Mächte und Unternehmen, die unsere Mineralien ohne Regulierung rauben wollen.

Was im Kongo passiert, ist identisch mit dem, was in Palästina und im Südsudan passiert. Es handelt sich um ein geopolitisches Projekt, das unsere Menschen terrorisiert, sie von ihrem Land vertreibt und Chaos verursacht, sodass Mineralien ohne Aufsicht oder Steuern abgebaut werden können. Dörfer werden geplündert, damit andere davon profitieren können. Es handelt sich um einen schrittweisen Plan zur Zerschlagung des Kongo, und das schon seit Generationen.

TS: Raphael, kannst du uns auf der Grundlage deiner Beobachtungen seit 1996 helfen, die tiefgreifenden Auswirkungen dieser Gewalt auf die Menschen in der DRK zu verstehen?

RB: Nach dem, was ich seit Beginn dieses Krieges erlebt habe, ist dieser Konflikt anders. Während der Krieg häufig auf Männer abzielt, die am meisten Widerstand leisten, richten sich die Kriegswaffen im Kongo nun bewusst gegen Frauen und Kinder. Das ist so beabsichtigt.

Ich habe mit eigenen Augen Dinge gesehen, die schwer zu verstehen sind. Ich sah schwangere Frauen, deren Bäuche aufgeschlitzt wurde, um das Baby zu entfernen, wodurch die Mutter starb. Ich habe die Vergewaltigung minderjähriger Kinder gesehen – zwei Jahre alt, fünf Jahre alt, zehn Jahre alt. Warum? Warum bekommen Buben, die erst 12 oder 13 Jahre alt sind, schwere Waffen und werden gezwungen zu kämpfen? Ich habe ein Bild von einem Soldaten der UNO-Friedenstruppen, der neben einem vielleicht 14-jährigen Jungen steht, welcher eine Kalaschnikow trägt. Dies ist keineswegs ein simpler Krieg, es ist eine systematische Zerstörung.

Diese gezielte Ausrichtung ist eine kalkulierte Waffe. Wenn du die Fähigkeit einer Frau zerstörst, Kinder zu gebären und das Leben zu fördern, zerstörst du die Fähigkeit der Nation, sich zu vermehren. Wenn du die Kinder tötest, vernichtest du die zukünftigen Anführer*innen und die Zukunft des Landes. Das Ziel ist es, die Nation verschwinden zu lassen.

Dieser soziale und psychologische Effekt hindert die Menschen daran, an morgen zu denken. Es gibt keine Zukunftsplanung, keine nachhaltigen Projekte für die nächsten zwei oder zehn Jahre. Die Gemeinschaft lebt in ständiger Angst, überlebt von der Hand in den Mund und denkt nur darüber nach, was sie heute essen werden, weil sie glauben, dass sie morgen tot sein könnten.

TS: Was mich beunruhigt, ist das Versagen der internationalen Gemeinschaft, die oft ihre Besorgnis über den Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo zum Ausdruck bringt, sich aber in Schweigen hüllt, wenn es gilt, direkt zu handeln. Was ist deine Meinung nach der wahre Grund für dieses Scheitern?

RB: Ich kann nicht für andere Aktivist*innen sprechen, Tanya, aber meine Perspektive ist diese: Ich blicke auf die internationale Gemeinschaft und sehe eine tiefgreifende Tragödie.

Die Geschichte des Kongo erzählt uns alles. Zuerst schlachtete König Leopold II. die Hälfte unserer Bevölkerung ab – zehn Millionen Menschen. Jetzt haben die M23 und diejenigen, die sie geschickt haben, bereits sechs Millionen abgeschlachtet [die neueste offizielle Zahl]. Die Absicht scheint die Ausrottung des kongolesischen Volkes zu sein.

Und das bringt uns zu deiner umfassenderen Frage. Die Wahrheit ist, dass die internationale Gemeinschaft gut informiert ist, lange bevor eine Tragödie eine Nation trifft. Sie schicken Ermittler*innen in den Kongo; europäische Parlamentarier*innen erhalten umfangreiche Berichte. Doch niemand handelt. Das ist unsere tiefste Angst. Das zwingt uns zu fragen: Existiert die internationale Gemeinschaft in Tat und Wahrheit? Oder existiert sie nur für Europa, aber nicht für Afrika?

Was im Kongo passiert, passiert auch im Südsudan und anderswo. Sie sollten eine Rolle spielen, aber sie schließen die Augen, weil sie mitschuldig sind. Wenn ich eine Plattform hätte, würde ich ihnen das direkt sagen: Ihr seid Teil davon. Dazu gehören auch UNO-Mitarbeiter*innen aus den Supermacht-Staaten, die dies ermöglichen. Jeder, der vorgibt zu helfen, kommt wegen der Mineralien und wahrt seine eigenen Interessen, anstatt das kongolesische Volk und unsere Zukunft zu verteidigen.

Wenn sie nicht mitschuldig sind, dann müssten sie ihr Schweigen brechen. Sie müssten Ruanda öffentlich dafür verurteilen, dass es in den Kongo einmarschiert ist. Sie müssten Uganda verurteilen. Sie müssten hervortreten.

Aber der Beweis ihrer Schuld liegt in ihrem Schweigen. 

TS: Viele Analysen des Völkermords in der Demokratischen Republik Kongo ignorieren die Rolle des Westens bei der Zerstörung der kongolesischen Souveränität. Wie wurde diese externe Kontrolle aus deiner Sicht durchgesetzt?

RB: Um ehrlich zu sein, liegt das Kernproblem nicht einfach bei der Regierungsführung. Die eigentliche Frage lautet: Wem dient ein Führer? Es spielt keine Rolle, ob du Kongolese bist; was zählt, ist, ob du dem kongolesischen Volk oder ausländischen Interessen dienst. Das System soll sicherstellen, dass ein echter kongolesischer Führer niemals Macht innehaben kann.

Wir sehen das im historischen Plan: Warum wurde Patrice Lumumba getötet? Warum wurde Präsident Laurent Kabila ermordet? Sein sogenannter Sohn, Joseph Kabila, gelangte daraufhin für 18 Jahre an die Macht, ohne dass der Mord an seinem Vater je wirklich untersucht wurde. 

Diese Kontrolle wird heute durch regionale Stellvertreter und gestohlene politische Mandate durchgesetzt. Seit 1994 unterstützen die USA Paul Kagame als Supermacht in der Region mit dem Ziel, den Kongo zu erobern. Politisch entscheiden sie, wer führt. Bei den letzten Wahlen war Félix Tshisekedi keineswegs die Wahl des Volkes; er kam, um eine externe Agenda zu verfolgen. Martin Fayulu war der auserwählte Führer des kongolesischen Volkes. Wenn du echte Veränderungen für die Demokratische Republik Kongo willst, werden sie dir keinen Zugang gewähren.

Meine Antwort lautet also: Wir kämpfen gegen ein System, in dem unsere eigene Regierung nicht die kongolesische Regierung ist. Es ist eine Marionettenregierung, die für einen „Kongo ohne Kongolesen“ arbeitet. Das ist die Wahrheit.

Deshalb ist unsere Arbeit mit der kongolesischen Solidaritätskampagne so wichtig und schwierig. Wir sind eine kleine Bewegung, die zukünftige Anführer*innen ausbildet. Wir haben Mitglieder in Kinshasa und in Süd- und Nord-Kivu, obwohl viele von den Kivus verstreut wurden oder in Flüchtlingslager in Uganda fliehen mussten. Das Problem ist ein tiefgreifender Mangel an Unterstützung. Unserem Volk fehlt es an allem, von sozialer Unterstützung bis hin zu einem Bildungssystem, das in den 1960er Jahren eingefroren ist. Sie haben keine Mittel, um sich zu verteidigen.

Genau aus diesem Grund organisieren wir uns von außen. Wir bauen eine neue Generation mit einer neuen Mentalität auf, um die Mission fortzusetzen, die Lumumba nie beendet hat. Aber unsere Mitglieder vor Ort werden vor Angst zum Schweigen gebracht. Vor Kurzem wurden in Bukavu Häuser niedergebrannt, unsere Mitglieder sind geflohen, und wir können nicht einmal mit ihnen kommunizieren – sie haben zu viel Angst, mit uns zu sprechen.

Wir müssen bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, denn ohne das haben wir keine Zukunft. Wir Kongolesen stehen allein da. Es gibt keinen einzigen Politiker oder Politikerin an der Macht, der etwas für den Kongo tut. Aber auch wenn wir nicht die Führung übernehmen, müssen wir sicherstellen, dass unsere Kinder ein Erbe haben, das sie fortsetzen können.

Available in
EnglishPortuguese (Brazil)GermanFrenchItalian (Standard)
Author
Tanya Singh
Translators
Nathalie Guizilin and Open Language Initiative
Date
14.10.2025
Source
Progressive InternationalOriginal article
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